"Mädeln, schwätzet französisch"

Eine ganz besondere Zeit erlebten die Nachfahren des Seehofgründers im Zweiten Weltkrieg und in den anschließenden acht Jahren. Die französischen Alliierten beschlagnahmten den Seehof vom 29. April 1945 bis zum 1. Januar 1953.
Vier Monate später, am 10. Mai 1953, begrüßte der komplett renovierte und vergrößerte Seehof wieder alte und neue Gäste.

Am 10. Mai 2013 hat der Immenstaader Seehof also einen besonders guten Grund zum Feiern: Auf den Tag genau vor 60 Jahren endete die französische Besatzungszeit und der Seehof startete in eine erfolgreiche Zukunft. "Wir gedenken der entstandenen deutsch-französischen Freundschaft und dass ein Großteil meiner Kochkunst auf französischer Schule bei Paul Haeberlin im Elsass basiert", erklärt Küchenchef Jürgen Hallerbach. 
Deutsch-französische Freundschaft trotz acht Jahren Besatzungszeit!

"Das war die schönste Zeit für uns, endlich hatten wir ein Familienleben." - Darin sind sich die vier Seehof-Töchter Alice, Lore, Christel und Bärbel einig. Das vierköpfige Familiengedächtnis sitzt beim gemeinsamen Mittagessen am früheren Familientisch in der Weinstube und kramt vergnügt in den Geschichten von damals. Diese Geschichten der heute 78, 76, 72 und 69 Jahre alten Damen, die Notizen und Memoiren ihrer Eltern und die historisch gesicherten Berichte zeichnen das Bild der "französischen Zeit" im Seehof.

"Am 29.4.1945 kamen die Franzosen und der Krieg war für uns aus", notiert Alois Rebstein und "der Seehof wurde gleich beschlagnahmt und wir hatten von da an die Ortskommandantur im Haus".  Die Fremdenlegionäre unter dem Kommando des Marokkaners Girou fahren um 15 Uhr an diesem Sonntag in Immenstaad, das kampflos übergeben wurde, ein. Erst ein langer Konvoi Pkws mit französischen Offizieren, danach Panzerwagen und LKWs mit Soldaten. "Die verschießen uns jetzt alle", macht Mutter Berta sich und ihren Töchtern Angst. Um 17 Uhr kommen die ersten Franzosen in den Seehof, um Quartier zu machen und fast alle der 15 Fremdenzimmer zu beschlagnahmen und sie fortan als Büros zu nutzen. Für Berta Rebstein ist es "ein sonderbares Gefühl", plötzlich Gast im eigenen Haus zu sein und Befehle zu erhalten. 

"Die Marokkaner kamen mit Eseln und Pferden und haben unsere ganzen Hühner gegessen", und an das aufgeregte Gegacker am Hühnerstall, der zwischen Seehof und See stand. "Als ich zum ersten Mal einen Schwarzen sah, stockte mein Atem", erinnert sich Christel Gentner. Viereinhalb Jahre war sie alt, als sie aus dem Zimmer kam und auf einem Stuhl zwei Marokkaner sitzen sah. Die Männer lachten und zeigten "ihre schneeweißen Zähne", als der Dreikäsehoch die Treppe herunter stürmte…   

Vier Stunden dauerte es, bis alle Zimmer hergerichtet sind und die "Gesellschaft an eine schön gedeckte Tafel zum Essen kam". Es gab Nudelsuppe, verschiedene Wurst und Rauchfleisch, Filetsteak und Kartoffelsalat, Käse, Butter und Kompott". Um Mitternacht war dieser aufregende Tag endlich zu Ende, alle fallen erschöpft ins Bett. Die Nacht ist ruhig und das erste französische "petit déjeuner" kommentiert Berta so: "Frühstück wie wir es im Frieden nicht hatten". Zum "zweiten Frühstück" gibt es dann den Befehl, dass ab sofort keine deutschen Gäste mehr bewirtet werden dürfen. Berta und Alois Rebstein werden von den Besatzern angestellt, "mein Mann als Hausmeister und ich als Köchin" und für ihre vier Töchter begann so "die schönste Zeit in unserem Leben". Plötzlich gab es Sonntagsspaziergänge mit Mutter und Vater, die Zeit für ihre Kinder hatten, trotz aller Aufgaben. Nur eines schmälert die Erinnerung an die schönen Tage von allen vier Frauen: Sie mussten immer gleich angezogen sein. Im Winter kam deshalb extra eine Schneiderin aus Freiburg und nähte vier Wochen lang. Und Bärbel trug das Los aller kleiner Schwestern: Sie musste alle Kleider auftragen, obwohl sie lange "Moritz" gerufen wurde, kurze Haare hatte und am liebsten Hosen trug.

Am 1. Mai 1945 wird erlassen, dass die Immenstaader die Gemeinde nicht verlassen dürfen. Die Polizeistunde wird von 20 bis 7 Uhr festgelegt und es ist verboten, Fahrräder, Motorräder oder Autos zu benutzen oder gar mit einem Boot oder Schiff auf dem See zu fahren. Alle Radios, Fotoapparate, Ferngläser mussten abgegeben werden. "Ja, die wurden alle bei uns im großen Saal gesammelt", erinnern sich die Schwestern und auch daran, dass viele der abgegebenen Dinge bald wieder durch eines der Fenster verschwanden.

Bis zum Einmarsch der Franzosen war dieser große Saal ein Büro des ausquartierten Seewerks und im Haus zudem das Grenzzollamt, bei dem Alois Rebstein beschäftig war. Im Häfele, das 1870 als Schutzhafen entstand und als Umschlagplatz für den Handel mit der Schweiz und Konstanz genutzt wurde, tat er seinen Dienst bis zum Kriegsende.

Am 9. Mai 1945 werden alle Gaststätten geschlossen, alle männlichen Einwohner und Lebensmittel erfasst. 700 Liter Wein sind umgehend abzuliefern, denn die französischen Soldaten müssen versorgt werden. Lebensmittel sowie Wohnraum für die 30 Offiziere und ihre Familien wurden requiriert, die Soldaten im "Schiff" einquartiert. Später quartierte sich die französische Marine-Kommandantur im Seehof ein. Berta Rebstein kochte weiter gutbürgerlich, doch der Speisezettel für die Offiziere machte ihr "großes Kopfzerbrechen: Vorspeise, Hauptgang, Dessert, Käse - Essen wie Gott in Frankreich." Die Materialien wurden alle geliefert und es wurden auch oft große Feste gefeiert, wenn Generäle kamen oder Weihnachten". Dann stand im großen Saal ein "riesiger Christbaum, es wurde getanzt und unsere beiden kleinen Schwestern haben von den Franzosen Geschenke bekommen", weiß Lore Handloser bis heute. Bärbel, "ce petit" durfte immer zu den Franzosen, die in der Badischen Weinstube saßen und diese mit einem schweren Vorhang vom restlichen Seehof abtrennte.

In der Küche führt Berta Rebstein das Regime, es ist die Zeit des Kohleherds und der kupfernen Kochtöpfe und plötzlich wird die erfahrene Köchin mit Austern, Muscheln, Froschschenkel, Langusten, Fisch aus dem Atlantik und Blattspinat konfrontiert. "All das haben wir durch die Franzosen kennengelernt", sagt Alice Hallerbach, die in der Küche als Spülerin arbeitet und sich so ihr erstes Fahrrad verdient. "Wisst ihr noch, ein rotes mit ganz dünne Rädle. Da hat der Vater aber geschaut", erinnert sie ihre Schwester.  Mutter Berta wird von den Austern schlecht und Alice Hallerbach mag "Schnecke schlotze" bis heute nicht, weil sie sie damals putzen musste… Später und bis heute findet sich manches, was damals in der Seehofküche Premiere feierte, auf der Seehof-Speisekarte. Und nicht nur am Aschermittwoch.

An einem Tag sieht die Seehof-Wirtin, dass zwei französische Soldaten einfach in den Keller gehen, um Wein zu holen. Der Weinkeller des Seehofs war in der heutigen "Alten Vogtei" und Alois hatte dort immer einige besondere Tröpfchen… Berta läuft umgehend zum Kommandanten. Er befielt den Soldaten, die beiden Weinkisten stehen zu lassen und veranlasst umgehend, eine Tafel anbringen zu lassen mit der Aufschrift: "Zutritt nur für die Marine".  

Nach den ersten vier Wochen Besatzung schreibt Berta Rebstein "So gut wie jetzt haben wir im Frieden nicht gelebt, es sind nette Menschen darunter - auch Elsässer, so dass wir uns gut verständigen können". Unterstützt wird sie in der Küche von "einem kleinen Dicken, der hieß Raimond", lachen die Töchter heute und sagen "wir hatten immer genug zu essen". Nicht nur das. Die Offiziere "schenkten uns Schoko-Cola", erinnert sich Bärbel und auch an die "Besatzungspakete" mit Schokolade, Brot und Kaffee.

Die Besatzer und Rebsteins kommen gut miteinander aus. In den Fremdenzimmern sind nur Büros, die Offiziere wohnen in den beschlagnahmten Villen und Häusern. Rebsteins leben nach wie vor im Seehof, schlafen oben und essen unten. Alois baut im Garten Gemüse an, das Berta dann in der Küche verwenden kann. Man kennt sich, man vertraut sich und so kann Berta, unbemerkt oder großzügig übersehen, ihren Töchtern zum sonntäglichen Kirchgang anstelle des Gesangbuches "einen Bollen Fleisch oder ein Stück Butter einpacken, das wir den armen Leuten geben sollten", so Christel. Die französischen Offiziere mögen das Stückchen Normalität im jungen Frieden mit  "Familienanschluss" bei guter Küche.

Alice, Lore, Christel und Bärbel haben eine Hauslehrerin, die sie nicht besonders mochten und diese Studienrätin unterrichtet sie auch in englischer und französischer Sprache.  Aber so richtig Spaß muss Lore daran nicht gehabt haben, ihr genügten acht Jahre lang "Bonjour" und "Au revoir" und weil sie nicht mit den Franzosen sprechen wollte, rannte sie immer vorbei. Dabei forderte Vater Alois doch ständig "Kind, schwätz französisch".

Ein bisschen ernst werden die Mienen der vier Schwestern bei der Erinnerung an den Winter 1945/46: Wie in jedem Winter war das Häfele zugefroren und die Kinder wagten sich aufs Eis. Auch die Jüngste schlitterte rum und rutschte in das einzige Loch weit und breit in der Eisfläche. Bärbel Dürr hat ihr Leben dem beherzten Zugreifen eines französischen Offiziers zu verdanken! 

1948 zur Zeit der Währungsreform "brachten die Franzosen die R-Mark in vier Säcken, stellten sie auf den Herd und verbrannten sie", so die Erinnerung der Töchter. Das Leben in Immenstaad normalisiert sich. Im Adlersaal ist am Wochenende Kino, im Warenhaus Langenstein gibt es BHs und Unterwäsche, es gibt drei Metzger, Bäcker, das Schuhhaus Schildt, die Wirtschaften Adler, Hirschen, Hecht, Schiff, eine Molkerei. Die Kinder aus dem Dorf gehen im heutigen Volksbank-Gebäude zur Schule, Post und Bank sind vis a vis vom Schwörerhaus, die Apotheke im Haus Michael…

1950 darf Seehofwirt Alois mit Genehmigung des damaligen Kommandanten Pons den Mittelbau um eine zweite Etage aufstocken, unter der Bedingung, dass dieser beschlagnahmt bleibt. Das gute Miteinander zwischen Rebsteins und der Kommandantur führt sogar zu einer Einladung der beiden jüngeren Töchter nach Paris. Doch daraus wird nichts. Als 1951 bei einem Sturm ein Fenster im Büro des Kommandanten durch einen Bauklotz zu Bruch geht, vermutet dieser Sabotage und steckt den Bauherrn postwendend für einen Tag ins Gefängnis. Wieder entlassen zieht dieser die Reiseerlaubnis für seine  beiden Töchter zurück. Paris kennt Bärbel bis heute nicht! "Mit der Zeit gewöhnten wir uns an alles und so gingen 8 Jahre vorbei, bis der Seehof am 1.1.1953 wieder frei wurde. Wir hatten nur Offiziere im Haus, die alle sehr anständig waren", notierte Alois Rebstein. Seine Frau schreibt: "Wir haben uns aneinander gewöhnt und als sie uns zum 1. Januar 1953 verließen, fehlte uns etwas und wir mussten uns erst wieder an das neue Leben gewöhnen". Bei den Franzosen, so schreibt sie fast anerkennend, "war alles eingeteilt, man wusste, was man zu tun hatte. Personal gab es genug".

Als der Seehof frei wurde, musste er zuerst von oben bis unten renoviert werden. Die Franzosen sind weg, Alice ist 19 Jahre alt, Lore 17, Christel 12 und Bärbel neun Jahre alt. 50 000 Mark kostete die Renovierung, "22 000 Mark bekamen wir als Entschädigung", erinnert sich Lore Handloser und ihr Vater Alois notierte "Es fiel uns sehr schwer nach fünf Jahren Krieg und acht Jahren Besatzung wieder anzufangen. Aber wir schafften es und der Seehof war wieder der Seehof von früher." Für die vier Töchter - auf die Vater Alois später schriftlich ein Loblied singt, weil der Neuanfang ohne sie nicht gelungen wäre - begann nun eine arbeitsintensive Zeit. Vom Frühstück bis in die Nacht arbeiteten sie mit ihren Eltern und erlebten, dass 1953 wieder die gleichen Gäste kamen, wie früher. Auch die Franzosen kommen bald und bis heute wieder, auch weil sie in Immenstaad am Bodensee den Beginn einer friedlichen und wie sie sagten „die schönste Zeit“ erlebten.

Die vier Schwestern haben bis heute viele Anekdote im Kopf und erinnern sich an ihre schöne Kindheit und Jugend während der Besatzungszeit… 
Bärbel, die am 10. Mai 1943 in Zimmer 16 des Seehofs geboren wurde, feierte am Tag der Seehof-Wiedereröffnung ihren zehnten Geburtstag und wird auch ihren 70. Geburtstag am 10. Mai 2013 natürlich im Seehof feiern.